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AHO Aktuell - 06.11.2002

EU-Grenzwert überschritten: Dioxin belastet Milch an der Elbe


Lüneburg (aho) - Bei der stichprobenartigen Untersuchung von Kuhmilch
aus dem Vordeichgelände der Elbe sind in zwei von sechs Milchproben
Dioxin-Konzentrationen gemessen worden, die über dem EU-Grenzwert von
drei Pikogramm je Kilogramm Milch liegen. Die belastete Milch soll nach
Angaben der Bezirksregierung Lüneburg vom Montag vernichtet werden.
Als Ursache für die Dioxin-Belastung vermuten Wissenschaftler das
Elbe-Hochwasser im August. Im Verlauf der Katastrophe wurden
elbaufwärts Chemieanlagen überflutet und große Mengen an
Flußsedimenten verfrachtet worden, die vermutlich mit Dioxinen belastet
waren. Den in den Überschwemmungsgebieten wirtschaftenden Landwirten
war empfohlen worden, die Überschwemmungsflächen nicht zu
nutzen. Trotz der Warnungen seien die Wiesen gemäht oder von Kühen
beweidet worden, sagte eine Sprecherin der Bezirksregierung Lüneburg
der Presse.

Dioxine: Chemisch - historisch – natürlich

Der Begriff Dioxin bezeichnet eine große Chemikalienfamilie. Es
sind polychlorierte aromatische Verbindungen mit ähnlicher Struktur und
ähnlichen chemischen und physikalischen Eigenschaften. Sie werden nicht
vorsätzlich erzeugt, sondern bilden sich als Nebenprodukt chemischer
Reaktionen, die das gesamte Spektrum von natürlichen Ereignissen wie
Vulkanausbrüchen und Waldbränden bis hin zu anthropogenen Prozessen,
wie die Herstellung von Chemikalien, Pestiziden, Stahl und Anstrichfarben,
das Bleichen von Zellstoff und Papier oder Abgasemissionen und
Müllverbrennung, abdecken. Beispielsweise sind Dioxine in den Emissionen
enthalten, die bei der unkontrollierten Verbrennung chlorierter Abfälle in
einer
Müllverbrennungsanlage entstehen.

Von den 210 verschiedenen Dioxinverbindungen sind nur 17 in toxikologischer
Hinsicht bedenklich. Am gründlichsten untersucht wurde das giftigste Dioxin,
nämlich 2,3,7,8-Tetrachlordibenzo-p-Dioxin, abgekürzt 2,3,7,8-TCDD. Dioxin
wird in "parts per trillion" (ppt) gemessen.

Dioxine lösen sich nicht in Wasser, sind jedoch sehr stark fettlöslich. Dies
bedeutet, dass sie mit dem Sediment von Gewässern und mit organischen
Stoffen in der Umwelt Bindungen eingehen und in das tierische und
menschliche Fettgewebe resorbiert werden. Hinzu kommt, dass sie nicht
biologisch abbaubar sind, so dass sie persistieren und in der
Lebensmittelherstellungskette anreichern. Sind Dioxine einmal in die Umwelt
freigesetzt, über die Luft oder das Wasser, so führt dies letztendlich zu
ihrer Ansammlung im Fettgewebe von Tier und Mensch.

Die Gefahr für Menschen und die Umwelt durch Dioxine ist seit 1976 der
breiten Öffentlichkeit bekannt, als eine Explosion in einer Chemiefabrik im
italienischen Seveso zwei Kilogramm Dioxin freisetzte und das Gebiet auf
Jahre unbewohnbar machte sowie schwere Hautschäden bei Menschen
verursachte.

Das “Ultragift TCDD" (Dioxin) bereitet den Wissenschaftlern Kopfzerbrechen.
Wie soll man eine Substanz bewerten, auf die sogar verwandte Versuchstiere
extrem unterschiedlich reagieren: Meerschweinchen sind beispielsweise
2.500mal empfindlicher als Hamster. Die Übertragung von Tierversuchen auf
den Menschen ist daher spekulativ.

Die Internationale Krebsforschungsagentur IARC konnte sich erst 1997 dazu
entschließen, TCDD (Dioxin) als krebserregend für den Menschen einzustufen.
Anlaß für die Entscheidung war unter anderem die Beobachtung, dass von über
5.000 Chemiearbeitern, deren TCDD - Gehalte im Blut 300fach erhöht waren,
15% mehr als erwartet an Krebs gestorben waren. Auch Jahre später lag die
Krebssterblichkeit bei ihnen durchschnittlich um 13% höher als bei der
übrigen Bevölkerung. Wer Spitzenbelastungen ausgesetzt war, dessen Risiko
stieg sogar um 25%. Die gleichzeitig erhobenen Daten für Herzinfarkt und
Diabetes sind unauffällig. Beim Diabetes kam es mit steigender
Dioxinbelastung sogar zu einer Abnahme.

Betrachtet man die Statistiken genauer, nimmt die Gesamtzahl aller Tumoren
zwar deutlich (signifikant) zu, die Zunahme kann jedoch nicht auf eine
bestimmte Krebsart zurückgeführt werden. Bisher musste in der Wissenschaft
einer bestimmten Substanz eine ganz bestimmte Krebsart zugeordnet werden,
um einen ursächlichen Zusammenhang herzustellen. Die wenigen deutlichen
(signifikanten) Zunahmen bestimmter Krebsarten können das Gesamtergebnis
nicht erklären. So trat in der belasteten Gruppe 11mal häufiger Krebs des
Bindegewebes auf. Das Resultat verliert allerdings an Brisanz, wenn man
weiss, dass die Statistik nur auf drei Fällen beruht. Die Zunahme von
Blasenkrebs hat nach Angaben der Autoren nichts mit dem Dioxin zu tun,
sondern ist auf die Chemikalie „4-Aminobiphenyl“ am Arbeitsplatz
zurückzuführen. Diese Substanz ist dafür bekannt, dass sie Blasenkrebs
hervorruft. Da sich insgesamt die Sterblichkeit (Gesamtmortalität) der
Chemiearbeiter nicht von der restlichen Bevölkerung unterscheidet, trägt
das Dioxin die Bezeichnung “Ultragift” zu unrecht.

An objektivierbaren Gesundheitsschäden bleibt in erster Linie die
entstellende Chlorakne (schwere Hautveränderungen). Auch eine Wirkung
auf das zentrale Nervensystem, die sich in schweren Depressionen äussern,
ist wahrscheinlich. Bei Chemieunfällen wie in Seveso sind jedoch nicht nur
Dioxine entstanden: Die Wirkung der den Dioxinen nahe verwandten
„chlorierten Naphthaline“ ist bisher kaum untersucht, weil sich die Fachwelt
auf das TCDD (Dioxin) konzentrierte. (1)

Auch natürliche Quellen

Seit einigen Jahren weiss man aber auch, dass auch in natürlichen Quellen
gibt. So zum Beispiel in den Tongruben des Westerwaldes. Hier wurden im
Kaolinit (Bolus alba) Dioxine in beachtlichen Mengen aus prähistorischer
vulkanischer Aktivität gefunden. Und so dürften sich Generationen Dioxine
per Bolus alba in Form von Pillen, Kosmetika und Babypudern auf und in den
Körper gebracht haben. Ganz ohne industrielle Chlorchemie und ohne den
Umweg über die Tierernährung.

300 Jahre

Wissenschaftler fanden Dioxine (polychlorierte Dibenzo-p-Dioxine und
Dibenzofurane = PCDD/F) auch im Sedimentgestein von vier Schwarzwälder
Seen. Erstaunlich: Das giftige Sediment stammt aus dem 17. Jahrhundert -
Dioxin-Quellen wie Müllverbrennungsanlagen oder die Produktion von
Chorphenolen gab es damals noch gar nicht. Als Ursache vermuten die Forscher
atmosphärische Belastungen durch die damalige Produktion von Holzkohle oder
das Schmelzen von Erzen(2).

Rein biologisch

Bisher galten Dioxine als die giftigsten vom Menschen hergestellten
organischen Substanzen. Doch die Natur war wieder einmal schneller: So
bewiesen holländische Chemiker, dass in Waldböden bis zu 20 verschiedene
Dioxine und Furane aus Chlorphenolen gebildet werden. Auch die
Chlorphenole sind häufig natürlichen Ursprungs. (3)



(1) Steenland K et al.
Cancer, heart disease, and diabetes in workers exposed to
2,3,7,8-Tetrachlorodibenzo-p-dioxin.
Journal of the National Cancer Institute 1999, 91 pp.779-786

(2) Ingrid Jüttner, Bernhard Henkelmann, Karl-Werner Schramm,
Christian E. W. Steinberg, Raimund Winkler, and Antonius Kettrup
Occurrence of PCDD/F in Dated Lake Sediments of the Black Forest,
Southwestern Germany
Environmental Science & Technology, 1997, 31,S. 806 – 811

(3) Eddo J. Hoekstra, Henk de Weerd, Ed W. B. de Leer, and
Udo A. Th. Brinkman
Natural Formation of Chlorinated Phenols, Dibenzo-p-dioxins, and
Dibenzofurans in Soil of a Douglas Fir Forest
Environmental Science & Technology 1999, 33,S. 2543 - 2549


Unter Verwendung von Materialien aus dem Europäischen
Institut für Lebensmittel- und Ernährungswissenschaften
(EU.L.E.) e.V., München


 



 

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