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AHO Aktuell - 24.02.2002

AHO - Historisch: Dieß unseelige Wurstgift!


von Eva Blimlinger, © heureka 5/01

Hormonfleisch, BSE, Maul- und Klauenseuche, Massentierhaltung - Schlagzeilen,
die den Fleisch- und Wurstverzehr in Misskredit bringen, gab es in letzter Zeit
zuhauf. Im Vergleich zu früher sind heute ernste Infektionen oder gar Todesfälle
durch Fleischvergiftung selten: Noch im 19. Jahrhundert wurden halbe Dörfer und
Sippschaften dahingerafft.

Der isolierte Bazillus


1896 wurde der belgische Arzt Emile van Ermengem in das Dorf Ellezelles gerufen.
Er sollte einer Massenvergiftung auf den Grund gehen, die drei Tode und 23 schwere
Erkrankungen zur Folge hatte. Rasch fiel der Verdacht des Mediziners aus Gent auf
verdorbenen Schinken. Er nahm Proben aus dem Schinken und aus der Milz eines
Verstorbenen. In seinem Labor gelang es van Ermengem, aus den Proben einen
Bazillus zu züchten, der ohne Sauerstoff auskam. Kulturen dieses Bazillus spritzte
er verschiedenen Tieren unter die Haut. Bald konnte er beobachten, wie die meisten
Tiere erkrankten. Nur Hunde und Katzen erwiesen sich als relativ unempfindlich.
1897 publizierte der Forscher seinen Fund. Nach dem von ihm isolierten "bazillus
botulinus" ("botulus" ist das lateinische Wort für Wurst) erhielt die Krankheit
den Namen Botulismus. Vorher hatte man geglaubt, dass die immer wieder auftretende
Wurst- und Fleischvergiftung durch Fäulnis und Eiweißumsatz verursacht würde.
Warum reichte es nicht, das Fleisch abzukochen? Dank van Ermengem kannte man nun
endlich die Antwort: weil beim Abkochen zwar die Giftstoffe unschädlich gemacht
werden, nicht aber die Sporen, die auch in abgekochten Lebensmitteln wieder
auskeimen können.


Ungesunde Blutwürste

Im 19. Jahrhundert konnte der Verzehr einer Wurst durchaus lebensgefährlich sein.
"In der That verdienen diese traurigen Vorfälle bey uns auch wegen ihrer so
bedeutenden Häufigkeit die ernsteste Betrachtung", schrieb der schwäbische Arzt
Justinus Kerner 1820. "Es ist möglich, daß in einem gleich großen Landstriche
der tropischen Länder nicht viel mehr Menschen durch Schlangengift, als wie bey
uns durch dieß unseelige Wurstgift, siech oder getödtet werden." Doktor Kerner,
Oberamtsarzt zu Weinsberg in Württemberg, daneben ein angesehener Dichter der
Romantik, schilderte als Erster Fälle von Wurstvergiftung und schrieb ausführlich
über die Symptome. Seiner Meinung nach wurde die Erkrankung von Blut- und Lebe-
rwürsten hervorgerufen. Schon etwa tausend Jahre zuvor waren in Byzanz Ver-
giftungen nach dem Verzehr von Blutwürsten aufgetreten und es war deren Her-
stellung dort verboten worden. Die Blunzen von 1820 waren mehrere Kilo schwere,
in Schweinsmägen gestopfte Würste. Für Kerner stand fest, dass die regionale
Zubereitungsweise an der Vergiftung schuld war: "Man fand, daß in Schwaben das
Well- oder Kesselfleisch nicht so lange gekocht wurde als anderwärts, daß stets
zu diesen Würsten Gehirn, Grütze, Semmel, Milch, Mehl und andere leicht
zersetzbare Substanzen hinzugeführt wurden, daß viele Kesselbrühe zur Wurst
hinzukam, und daß schließlich unzweckmäßiges Aufbewahren, insbesondere dichtes
Aufeinanderpacken der fertigen Würste und ungenügendes Räuchern die Giftbildung
bewirkten."

Vergebliche Bemühungen

Kerners Aufzeichnungen sind Teil einer umfassenden, hauptsächlich medizinischen,
Literatur, die sich mit den Ursachen und Folgen von Lebensmittelvergiftungen
beschäftigte. Insbesondere Fleisch- und Wurstvergiftungen waren im 19. Jahrhundert
ein beliebtes Thema. Was das Gift war, das die Menschen in Schwaben dahinraffte,
darüber wurde lange und ausführlich gemutmaßt und wissenschaftlich disputiert.
"Die dortigen Aerzte", schrieb Kerner über seine Kollegen, "gaben sich alle
erdenkliche Mühe, die Natur des Giftes genau kennen zu lernen, um dann auch Mittel
aufzufinden, wodurch die angegriffene Gesundheit wenigstens verbessert werden kann,
wenn sie auch nicht vollkommen hergestellt werden sollte. Jedoch blieben ihre
Bemühungen lange ohne Erfolg. Denn bald suchte man das Gift in der Blausäure, bald
in dem Pfeffer welcher zu den Würsten genommen worden war, und an dessen Stelle,
Gott weiß, welche giftigen Saamen gebraucht worden seyn sollten, bald in der im
Rauche befindlichen Holzsäuren bald endlich, da man wahrgenommen hatte, daß
diejenigen Würste, welche sehr viel Fett enthielten,und nicht nur gut geräuchert
worden waren, und deshalb einen eckelhaften sauren Geruch und Geschmack hatten,
am ersten die schädlichen Folgen hervorbrachten, in der Fettsäure."

Wurst- und Fleischgift

Kerner schloss: "Bei dieser Verschiedenheit der Meinungen über die Natur des Giftes
glaubte man die beste Parthie zu ergreifen, wenn man bei der Wahl eines Namens für
dasselbe die Ursache, von welcher die giftigen Wirkungen abhängen, ganz unbeachtet
ließ, und nur den Körper berücksichtigte, welcher dieses Gift enthält. Daher
entstand der Namen Wurstgift." Ähnliche Krankheitssymptome traten aber nicht nur
nach dem Verzehr von Würsten auf. Alle vergifteten Lebensmittel konnten die
Krankheitserscheinungen hervorrufen: Schinken, Fleischkonserven, Fische, Mollusken,
Muscheln, Austern, Krickenten, Braten und Gänsefett, Hasenpastete und Presskopf,
Spickgans und sogar Käse. In Russland häuften sich Fischvergiftungen. In Österreich
traten Massenerkrankungen an Fleischgift um 1874 in der Nähe von Bregenz und 1894
in Teplitz-Schönau auf. Schinkenvergiftungen wurden in Westfalen, Schlesien, Paris,
England und der Schweiz gemeldet. Es gibt den Bericht einer Massenerkrankung in
Kloten bei Zürich 1878, "wo gelegentlich eines Sängerfestes innerhalb weniger
Tage 657 Personen erkrankten, von welchen 6 starben".

Tödlicher Krankheitsverlauf

Wie verlief nun die Krankheit nach dem Verzehr der Wurst? Wiederum von Justinus
Kerner stammt eine detaillierte Fallstudie: "Friedrich Hüttinger von Steinsfeld,
ein Mann von etlich und fünfzig Jahren, aß am 4. April 1819 von einem mit Blut
gefüllten Schweinsmagen (...). Die Wurst war verwällt (leicht gesotten, Anm. d.
Verf.) und in Rauch gebracht worden, nicht aber in eine Rauchkammer, sondern ins
Kamin. In diesem blieb sie 14 Tage. Die Wurst habe verdorben geschmeckt. (...)
Die schrecklichste Wirkung aber hatte diese Wurst auf Hüttinger selbst. Nachts
auf dem Genuß derselben, erhielt er ein Erbrechen und war am nächsten Morgen
schon nicht mehr im Stande zu schlingen. Es trat große Heiserkeit ein und
Schmerzen im Luftröhrenkopfe, auch fieng er an alles doppelt zu sehen. Vom
herbeygerufenen Chirurgen erhielt er, weil er immer Neigung zum erbrechen klagte,
ein Brechmittel, auf das er zwey Stücke fettartigen Fleisches und nachher Galle
erbrochen haben soll. Auch spritzte ihm der Chirurg den Hals aus. Ich fand den
Kranken, der gehemmten Respiration wegen, in einem Sessel sitzend. Zu schlingen
war er ganz und gar unvermögend. Die Augenlider waren geschlossen, er war sie
von selbst aufzuschlagen, nicht im Stande. Das Sehloch war außerordentlich
ausgedehnt und unbeweglich. Die Haut war trocken und kalt, der Unterleib war
äußerst gespannt. Seine Stimme war gänzlich weg, er war eigentlich stumm und
sprach nur durch Zeichen. Durch solche, gab er mir zu erkennen, daß er in einem
grob gedruckten Buche nicht lesen könne, wohl aber die Personen die vor ihm herum
gehen bemerkte. Bauchschmerzen schien er nicht zu fühlen, seine einzige Klage war
über den Kehlkopf und über die Beengung auf der Brust. Den Urin könne er nicht
lassen, erklärte er durch Zeichen. Sanft, mit einigen Zuckungen, starb er Abends
neun Uhr an diesem Tage."

Mögliche Biowaffe?

Was der Arzt Kerner 1820 beschrieben hat, sind allesamt Anzeichen des Botulismus,
heute Sammelbegriff für Vergiftungen durch verdorbene Wurst, verdorbenen Fisch,
verdorbenes Fleisch, Gemüse oder Obst. Zu den Symptomen zählen Schwindelgefühl,
Übelkeit, Kopfschmerzen und Erbrechen, Trockenheit und Rötung der Mund- und
Rachenschleimhäute, Muskellähmungen sowie Augenerkrankungen. Bis 1970 wurden
insgesamt sieben Arten des Botulismus entdeckt. Der klassische Botulismus führt,
falls er nicht erkannt und behandelt wird, innerhalb etwa einer Woche durch
Lähmung der Atemmuskulatur oder allgemeine Entkräftung zum Tod. Lebensmittel-
vergiftung ist nach dem österreichischen Epidemiegesetz anzeigepflichtig. In
den letzten Wochen kamen Botulismus-Erreger noch auf etwas andere Weise ins
Gespräch: als mögliche Biowaffe.


*Eva Blimlinger ist Historikerin und Forschungskoordinatorin der Österreichischen
Historikerkommission
 



 

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