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AHO Aktuell - 15.01.2002

BVG: Schächterlaubnis für muslimischen Metzger


Karlsruhe (BVG) - Mit Urteil vom heutigen Tage hat der Erste Senat des
Bundesverfassungsgerichts der Verfassungsbeschwerde eines türkischen
muslimischen Metzgers stattgegeben, der eine Ausnahmegenehmigung von
dem allgemeinen gesetzlichen Verbot erstrebte, Tiere ohne Betäubung zu
schlachten (zu schächten).

Der Erste Senat stellt fest, dass § 4 a des Tierschutzgesetzes (TierSchG)
verfassungsgemäß ist, seine Auslegung und Anwendung durch die Verwaltungs-
behörden und Verwaltungsgerichte in den angegriffenen Entscheidungen den
Anforderungen des Grundgesetzes (GG) jedoch nicht gerecht werden. Nach
Absatz 1 dieser Norm ist das Schächten grundsätzlich verboten. Absatz 2
eröffnet jedoch die Möglichkeit, aus bestimmten - auch religiös motivierten -
Gründen eine Ausnahmegenehmigung zu erteilen. Im Ausgangsverfahren ging
es um die zweite Alternative der Nr. 2 dieses Absatzes; danach darf eine
Ausnahmegenehmigung nur erteilt werden, soweit es erforderlich ist, den
Bedürfnissen von Angehörigen bestimmter Religionsgemeinschaften im
Geltungsbereich des Gesetzes zu entsprechen, denen zwingende Vorschriften
ihrer Religionsgemeinschaft den Genuss von Fleisch nicht geschächteter
Tiere untersagen.

Der Senat stellt klar, dass das Schächten für einen muslimischen Metzger in
erster Linie eine Frage der Berufsausübung und nicht der Religionsausübung
ist. Ein gläubiger Moslem hat diese Tätigkeit allerdings unter Beachtung
religiöser Vorschriften auszuüben. Deshalb ist das Grundrecht der Religions-
freiheit als Maßstab für die Auslegung von Vorschriften, die die Berufs-
ausübung einschränken, ergänzend und deren Schutz verstärkend heranzuziehen.
Das ändert jedoch nichts daran, dass die Berufsausübungsfreiheit einge-
schränkt werden kann. Hierbei ist insbesondere der Grundsatz der Verhältnis-
mäßigkeit zu beachten.

Danach ist § 4 a Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 TierSchG mit
dem Grundgesetz vereinbar. Der Gesetzgeber hat durch das allgemeine
Schächtverbot wie durch die Ausnahmeregelung des § 4 a Abs. 2 Nr. 2
Alternative 2 TierSchG in zulässiger Weise den Belangen des Tierschutzes
Rechnung getragen. Seine Grundannahme, dass es Tieren weniger Schmerzen
und Leiden bereitet, wenn sie vor dem Schlachten betäubt werden, ist
zumindest vertretbar. Durch die Möglichkeit, Ausnahmegenehmigungen zu
erteilen, wird aber auch den Grundrechten muslimischer Metzger
hinreichend Rechnung getragen, deren Berufsausübung unter Beachtung
ihrer religiösen Überzeugung so ermöglicht wird. Sie können damit ihre
muslimischen Kunden mit dem Fleisch geschächteter Tiere beliefern und
auf diese Weise in den Stand setzen, Fleisch in Übereinstimmung mit
ihrer Glaubensüberzeugung zu verzehren.

Dies gilt allerdings nur, wenn § 4 a Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 TierSchG
nicht wie seit einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 15. Juni 1995
(BVerwGE 99, 1) so ausgelegt und angeandt wird, dass die Vorschrift für
muslimische Metzger praktisch leer läuft. Ein solches Ergebnis lässt sich
durch eine verfassungsgemäße Auslegung der Tatbestandsmerkmale "Religions-
gemeinschaft" und "zwingende Vorschriften" vermeiden. Der Begriff der
Religionsgemeinschaft ist, wie inzwischen in einer neueren Entscheidung
(BVerwGE 112, 227) auch das Bundesverwaltungsgericht angenommen hat,
nicht in dem Sinne zu verstehen, dass es sich um eine Religionsgesell-
schaft oder -gemeinschaft im Verständnis des Art. 137 Abs. 5 der Weimarer
Reichsverfassung oder des Art. 7 Abs. 3 GG handeln müsste. Für die
Bewilligung einer Ausnahmegenehmigung vom Schächtverbot ist vielmehr
ausreichend, dass der Antragsteller einer Gruppe von Menschen angehört,
die eine gemeinsame Glaubensüberzeugung verbindet. Als Religionsgemein-
schaften kommen im vorliegenden Zusammenhang deshalb auch Gruppierungen
innerhalb des Islam in Betracht, deren Glaubensrichtung sich von
derjenigen anderer islamischer Gemeinschaften unterscheidet. Diese
Auslegung des Begriffs der Religionsgemeinschaft steht mit der Verfassung
im Einklang und trägt insbesondere Art. 4 GG Rechnung. Sie ist auch mit
dem Wortlaut der genannten tierschutzrechtlichen Vorschrift vereinbar
und entspricht dem Willen des Gesetzgebers. Dieser wollte die Ausnahme-
möglichkeit nicht nur für Angehörige der jüdischen Glaubenswelt, sondern
auch für Mitglieder des Islam und seiner unterschiedlichen Glaubens-
richtungen eröffnen.

Mittelbar hat das Konsequenzen auch für die Handhabung des weiteren
Merkmals "zwingende Vorschriften", die den Angehörigen der Gemeinschaft
den Genuss von Fleisch nicht geschächteter Tiere untersagen. Ob dieses
Merkmal erfüllt ist, haben die Behörden und im Streitfall die Gerichte
zu entscheiden. Allerdings kann diese Frage bei einer Religion, die
- wie der Islam - unterschiedliche Auffassungen zum Schächtgebot
vertritt, nicht mit Blick auf den Islam insgesamt oder die sunnitischen
oder schiitischen Glaubensrichtungen dieser Religion beantwortet werden.

Die Frage nach der Existenz zwingender Vorschriften ist vielmehr für
die konkrete, gegebenenfalls innerhalb einer solchen Glaubensrichtung
bestehende Religionsgemeinschaft zu beurteilen.

Dabei reicht es aus, dass derjenige, der die erstrebte Ausnahmege-
nehmigung zur Versorgung der Mitglieder einer Gemeinschaft benötigt,
substantiiert und nachvollziehbar darlegt, dass nach deren gemeinsamer
Glaubensüberzeugung der Verzehr des Fleischs von Tieren zwingend eine
betäubungslose Schlachtung voraussetzt. Ist eine solche Darlegung
erfolgt, hat sich der Staat, der ein derartiges Selbstverständnis der
Religionsgemeinschaft nicht unberücksichtigt lassen darf, einer
Bewertung dieser Glaubenserkenntnis zu enthalten.

Die Behörden und die Verwaltungsgerichte haben im Ausgangsverfahren
die Notwendigkeit und die Möglichkeit einer solchen Auslegung verkannt
und sind daher bei der Anwendung der Ausnahmeregelung vom Schächtverbot
zu Lasten des Beschwerdeführers zu einer unverhältnismäßigen Grund-
rechtsbeschränkung gelangt. Der Erste Senat des Bundesverfassungs-
gerichts hat deshalb die angegriffenen Gerichtsentscheidungen
aufgehoben und die Sache an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.

Urteil vom 15. Januar 2002 - Az. 1 BvR 1783/99 -

Karlsruhe, den 15. Januar 2002
Bundesverfassungsgericht - Pressestelle -
Pressemitteilung Nr. 2/2002 vom 15. Januar 2002
 



 

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