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AHO Aktuell - 28.12.2001

Die Lust auf Fleisch


Aus: Wohl bekomm's! Was Sie vor dem Einkauf über
Lebensmittel wissen sollten. Von Udo Pollmer und Brigitte
Schmelzer-Sandtner. Köln 2001,
Kiepenheuer & Witsch. ISBN 3-462-03014-0.

Woher stammt die besondere Wertschätzung der Menschen
für Fleisch? Völkerkundler berichten selbst aus entlegenen
Regionen der Welt stets aufs neue von einem Hunger nach
Fleisch, von besonderen Ritualen, die tierischem Eiweiß zuteil
werden. Die gewaltigsten Anstrengungen ergreifen allerdings
das "zivilisierte" Europa und Nordamerika. Sie verfüttern den
größten Teil ihrer Getreideernten, um Steaks, Schinken und
Leberwürsten zu frönen.

Für unseren Appetit wird gern die Werbung verantwortlich
gemacht. Sie trägt bekanntlich an allem Schuld, was im
ersten Moment irrational wirkt. Stammt nicht von ihr der
Slogan, Fleisch sei ein Stück Lebenskraft? Tatsächlich aber
muss es einen anderen Grund geben, warum Menschen
nahezu aller Kulturen - darunter auch solche, die keine
Massenwerbung kennen - so begierig nach Fleisch verlangen.
Eine Gier, die sie in mancherlei Hinsicht teuer bezahlen.

Aber es gibt auch Kulturen, in denen das Schlachten von
Tieren eine Sünde darstellt, in denen traditionell vegetarisch
gegessen wird, ohne dass ein Hungernder auf den Gedanken
käme, sich an einem der vielen herumstreunenden Rinder zu
vergreifen. Die beinahe sprichwörtlichen "Heiligen Kühe"
Indiens sind aber weniger aus Einsicht, sondern aus Not
geboren. Denn ohne seine heiligen Kühe würde Indien
verhungern. Dies ist die einleuchtendste Erklärung für ein aus
unserer Sicht widersinniges Phänomen.

Das Verbot des Hinduismus, Rinder zu schlachten, war die
logische Folge einer Bevölkerungsexplosion vor einigen
Jahrhunderten. Zuvor, zu Zeiten nomadisierender Hirten
schwelgten die wedischen Priester noch im Genuss von
Rindfleisch. Sie beschäftigten sich vorzugsweise mit dem
Züchten, Schlachten und Verspeisen von Rindern. Mit
steigender Bevölkerungsdichte reichte das Fleisch bald nur
noch für die Priester. Unruhen waren die Folge. Um die
Menschen ernähren zu können, musste man pflanzliche
Nahrung wirkungsvoller nutzen. Die Weidegründe wichen dem
Ackerbau. Schließlich gewann der Hinduismus das Vertrauen
der Gläubigen, weil er dem Rindfleischgenuss abschwor und
ihn zur Sünde erklärte.

Das Rind aber wurde weiterhin gebraucht. Es musste den
Pflug ziehen. Gäbe es in Indien einen offiziellen Markt für
Rindfleisch, würden bei der ersten Hungersnot die
Arbeitstiere als "Fleischvorräte" angegriffen - und damit die
zahllosen armen Bauern ihres wichtigsten Produktionsmittels
beraubt. Erst der Schutz des Rindes ermöglichte den
effizienteren Ackerbau. Außerdem konkurrieren die
Wiederkäuer nicht mit dem Menschen um Nahrung, sondern
essen Gras und Gestrüpp. Sie liefern Mist, Milch und
Arbeitskraft.

Doch auch religiöse Tabus sollte man nicht zu eng auslegen.
Im heutigen Indien ist das Verhältnis von weiblichen zu
männlichen Tieren "zufällig" so abgestimmt, wie es die
Landwirtschaft erfordert. Im Norden mit seinen ausgedehnten
Weizenfeldern braucht sie Zugtiere. Dort leben doppelt soviel
Ochsen wie Kühe. Wo statt dessen Reis auf nur
handtuchgroßen Feldern wächst, finden wir die
milchliefernden Kühe in der Überzahl vor. Wie ist das möglich?
Eine bauernschlaue, indische Lösung besteht darin, die
überzähligen Kälber an muslimische Händler zu verkaufen.
Diese dürfen im Gegensatz zu den Hindus sehr wohl als
Metzger arbeiten und schlachten die Kälber als "Lamm". Und
Lamm darf (fast) jeder Inder essen, der es sich leisten kann.
So werden die kärglichen Reisrationen gelegentlich mit etwas
Fleisch aufgebessert.

Selbst auf die Gefahr hin, ein paar Ideologen zu verprellen:
Auch unsere nächsten Verwandten, die Schimpansen, sind
keineswegs strenge Pflanzenesser, wie Anthropologen früher
gern behaupteten. Was wie simpler Genuß von Obst
aussieht, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als gezielte
Suche nach Maden, also nach Fleisch. Dabei verschmähen
die wählerischen Menschenaffen makellose Früchte und
spucken nicht wurmhaltige Teile einfach aus. Ganz
abgesehen davon, dass Schimpansen als hervorragende
Jäger neben Buschschweinen, Stummelaffen und jungen
Pavianen auch manchmal ihre eigenen Artgenossen
verspeisen.

Nein, es geht nicht um den alten Streit, ob der Mensch nun
Fleischfresser ist oder nicht. Es geht um die Frage, woher
dieser ausgeprägte Hang zum Fleisch stammt. Dazu müssen
andere als kulturelle oder werbliche Gründe in Betracht
kommen. Eine Tierstudie des Deutschen Instituts für
Ernährung in Potsdam und des Instituts für Gerontologie in
Kiew könnte ein wenig Licht ins Geheimnis unserer
Essvorlieben bringen: Fütterungsversuche an diesen
Instituten ergaben, das steter Verzehr von tierischem Eiweiß
den Serotoninspiegel im Gehirn kräftig erhöht. Serotonin ist
ein Botenstoff, der uns Wohlbefinden vermittelt und uns so
Lebensfreude verschafft. Bei Depressiven ist sein Gehalt im
Gehirn vermindert. Tierisches Eiweiß wirkt damit ähnlich wie
Zucker - ein anderes Produkt, von dem wir so schwer lassen
können. Auch Zucker wird gegessen, um die Bildung von
stimmungshebendem Serotonin anzuregen, ohne daß uns
dabei der biochemische Hintergrund unserer Essvorlieben
bewusst wäre.
 



 

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