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AHO Aktuell - 27.12.2001

Verbraucherschutz als Instrument der Macht


aus Novo Nr.55/56

Prof. Frank Füredi, Soziologe von der Universität Kent in Canterbury
beschreibt, wie wenig positive Impulse von der Verbraucherpolitik
ausgehen.

Man sagt, im Mittelpunkt der Verbrauchergesellschaft stehe das selbstbestimmte
Individuum und dessen Recht auf freie Wahl. In Wirklichkeit aber haben
Verbraucher die irritierende Eigenart, alle gleichzeitig über das gleiche
Produkt in Panik zu verfallen. Das sieht man im Bereich Lebensmittel sehr
gut. Außerdem neigen sie dazu, gleichzeitig alle die gleiche Kleidung zu
tragen und den gleichen Kaffee in identischen Cafés zu sich zu nehmen.
Verbraucherschutzinitiativen, so heißt es, repräsentieren neue, selbst-
bewusste Formen demokratischen Engagements und freier zivilgesellschaft-
licher Betätigung. Im Großen und Ganzen strahlen diese Initiativen aber
vor allem Reaktivität und Angst aus. Und in fast jedem Fall nehmen die
Beteiligten nicht ihr eigenes Leben in die Hand, sondern fordern staatliche
Behörden dazu auf, irgendwelche Probleme für sie zu lösen. Zwar wird
behauptet, Verbraucherpolitik sei die Politik des Markts, aber in
Wirklichkeit begründet der Verbraucherschutz Staatspolitik und fordert
die Ausweitung staatlicher Regulation. Er bewirkt eine Abwertung des
individuellen Bürgers und eine Stärkung der Macht öffentlicher Organe
und offizieller Experten. Verbraucherpolitik reflektiert ein neues
Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft: Die Beziehung zwischen
Bürgern und lokalen Autoritäten mutiert zu einem Verhältnis zwischen
Verbrauchern und staatlicher Bürokratie.

Selten wird darüber diskutiert, dass der Verbraucherschutz einen Triumph
des Staates über die Gesellschaft manifestiert. Schaut man sich die Ziele
und Forderungen von Verbraucheraktivisten einmal näher an, fällt auf,
dass alle Verbraucherschutzkampagnen direkt oder indirekt darin münden,
staatliche Eingriffe zu fordern, um Probleme, die Menschen selbst
angeblich nicht lösen können, an ihrer Stelle zu beheben. Daher
gewinnen Verbraucherinitiativen auch an Dynamik, wenn der Staat und
die politische Ordnung Autorität und Legitimität eingebüßt haben. Der
Verbraucheraktivismus geht einher mit dem Rückzug der Gesellschaft aus
dem politischen Leben. Er ist ein Parasit des sozialen und politischen
Zerfalls und gedeiht in einer Gesellschaft, in der Menschen keine
politische Vision mehr haben und in der Mechanismen, durch die sie
ihre persönlichen Wünsche zum Ausdruck bringen könnten, fehlen.
Verbraucheraktivismus ist daher immer die Kehrseite von Wählerapathie.
Je aktiver Verbraucherkampagnen werden, desto weniger gehen die Menschen
aller Voraussicht nach wählen. Das ist nicht einfach ein Zufall, sondern
beide Trends verstärken sich wechselseitig.

Es ist ein interessantes Paradox, dass der Verbraucheraktivismus im Kontext
der Legitimationskrise des Staates an Bedeutung gewinnt, aber gleichzeitig
dem Staat neue Aufgaben zuweist. Deshalb sind Politiker aller Parteien stark
daran interessiert, die Anliegen des Verbraucherschutzes aufzugreifen - sie
geben dem Staat und seinen bürokratischen Institutionen eine neue
Legitimationsgrundlage. Nehmen wir zum Beispiel eine der illegitimsten und
am wenigsten durch öffentliche Anerkennung getragenen Institutionen, die
wir kennen: die Europäische Kommission. Sie ist sich ihrer Illegitimität
sehr bewusst und bemüht sich daher, diesem Mangel abzuhelfen, indem sie
sich durch Erlass immer weiterer Verordnungen als relevanter Faktor in
unserem Leben neu erfindet. Die Kommission tritt ständig als Freund der
Verbraucher auf und gibt phänomenale Summen für Verbraucherinformationen
aus. Hier handelt es sich sehr deutlich um den Versuch, dem eigenen
Existenzanspruch die ideologische Grundlage zu geben.

Vergleichbares lässt sich derzeit im britischen Staat und bei der
dezentralisierten schottischen Exekutive sowie im neuen deutschen
"Verbraucherschutzministerium" beobachten. Jeder, der an der Macht ist,
nutzt das neue Thema Verbraucherschutz, um eine Rolle für sich zu schaffen.
So ehrenwert die Motive der Verbraucherpolitik auch sein mögen, sie bieten
indirekt stets eine Begründung für die Ausweitung staatlicher Aktivität
und für die Bürokratisierung des Alltagslebens. Seit der Thatcher-Ära in
den achtziger Jahren haben wir in Großbritannien eine ständige Zunahme
der Regulation und der aufsichtsrechtlichen Behörden erlebt. Jeder sagt:
"Ich glaube an den Markt! Ich glaube an individuelle Freiheit!" Aber je
mehr auf die Bibel der Freiheit geschworen wird, desto mehr regulative
Behörden entstehen. Hinter fast jeder Verbraucherschutzinitiative lauert
eine neue para-staatliche Institution.

Seit dem Niedergang des Wohlfahrtsstaats erleben wir keinen Rückgang
staatlicher Intervention, sondern deren unaufhaltsame Zunahme. Mit der
Erschöpfung des Wohlfahrtsstaats geht die Entwicklung eines neuen Staats
einher, der die alte Wohlfahrtsfunktion auf individualisierterer Grundlage
repliziert. Die Neuausrichtung öffentlicher Autorität auf den Verbraucher
hat dazu beigetragen, eine neue Form des politischen Lebens entstehen zu
lassen. Sie geht vor allem mit der nachhaltigen Minderung des Strebens
nach individueller Selbstbestimmung einher. Unter ihrem Einfluss ist eine
Transformation des politischen Aktivismus eingetreten. So weit es diesen
gibt, manifestiert er sich nun in Form dessen, was ich als "pressure
group politics" kennzeichnen möchte. Früher nannte man das Lobbyismus und
beklagte den Einfluss der Interessensgruppen, heute findet man für diese
Dinge viel schmeichelhaftere Beschreibungen.

Wir leben in einer Situation, in der das Streben von Menschen nach Teilhabe,
nach aktivem Eingreifen zunehmend von professionellen Organisationen und
Interessengruppen gekapert wird. In gewissem Sinne haben wir heute eine
politische Oligarchie, die aus politischen Klassen und Interessensgruppen
besteht und viel elitärer ist als die politischen Oligarchien des zwanzigsten
Jahrhunderts. Verbraucherpolitik ist ausgesprochen undemokratisch. Was ist
der Verbraucher? Wer ist er? Betrachten wir uns den Verbraucher wirklich,
stellen wir fest: Er ist ein stilles, atomisiertes und passives Individuum.
Der Vorgang des Verbrauchens veranschaulicht diesen Tatbestand. Der Akt
des Konsums, in dem man passiv etwas verbraucht, unterscheidet sich stark
von dem, was wir tun, wenn wir interagieren und produzieren. Deshalb werden
Verbraucherinteressen auch stets von hochgradig organisierten und
spezialisierten Interessengruppen vertreten. Das Recht dieser Leute, im
Namen des Verbrauchers zu sprechen, wird selten in Frage gestellt. Es
irritiert mich, wenn ich den Satz höre: "Als Verbraucher sind wir der
Meinung...". Ich zum Beispiel bin ein Pendler aus Kent. Als Kunde der Bahn
hat man nicht gerade viel Macht, und das ist schlimm genug. Aber noch
irritierender ist es, wenn diese Leute im Fernsehen als "Verband der
Bahnreisenden" oder "Stimme der Bahnfahrer" auftreten, als ob sie in meinem
Namen sprächen. Ich habe diese Leute nie kennen gelernt und hätte nichts
dagegen, wenn sie verschwänden. Aber, was die Bahn betrifft, sind sie die
authentische Stimme der Pendler, und damit hat sich die Sache. Würde man
jemals fragen, woher diese Leute eigentlich ihre Autorität beziehen, würde
man schnell feststellen, dass sie von ihren Freunden in der Bürokratie,
der Verwaltung, den Medien und dem Staatsapparat selbst stammt. Hier
handelt es sich um eine Art "closed shop", wo sich Regierende mit ihren
einigen Leuten beraten und diese anschließend einen bestimmten Betrag
erhalten, um ihre Missionen voranzutreiben. So, und nicht durch
irgendwelche Wurzeln an der Basis, werden bedeutende Vertreter von
Verbraucherinteressen geboren.

Für jeden, der ein Empfinden für Gleichheit und Gerechtigkeit hat, ist
aber noch wichtiger, dass das Konzept des Verbrauchers wirkliche
Machtbeziehungen und Ungleichheiten verschleiert. Als Bürger sind wir
wenigstens formal alle gleich. Egal wie viel Geld man auf der Bank hat,
jeder Bürger hat eine Stimme. Zwar haben manche Menschen mehr Einfluss
als andere, aber am Ende hat jeder nur eine Stimme. Das ist formale
Gleichheit und mit Sicherheit ein achtbarer Grundsatz. Wenn ich reicher
oder intelligenter bin als ein anderer, sagt deshalb niemand, ich sollte
drei oder fünf Stimmen haben. Wir wissen, dass wir als Bürger alle
Anspruch auf Gleichbehandlung und somit jeweils eine Stimme haben.
Verbraucher hingegen haben nicht je eine Stimme. Sie verfügen über sehr
unterschiedliche Quanta an Macht. Der Würstchenverbraucher bei Aldi ist
nicht wirklich der gleiche Verbraucher wie die Person, die im Gourmet-
Shop Barschfilets einkauft. Und beide gleichen erst recht nicht dem
industriellen Benzinkonsumenten, der den Benzinpreis in einer Art
beeinflussen kann, von der die ganzen protestierenden Lastwagenfahrer
von vor einem Jahr nur träumen konnten - auch wenn sie ein illusionäres
Machtgefühl verspürten.

Der Verbraucheraktivismus privilegiert die Stimme der Mächtigen und schert
sich ohnehin nicht um die Belange der Armen und Ausgeschlossen, aber auch
nicht um die der großen Mehrheit. Die meisten Verbraucher haben überhaupt
keine Macht. Sofern sie überhaupt welche haben, gilt dies nur in Bezug auf
sehr spezifische Produkte und für spezielle Bereiche. Eben deshalb können
Verbraucheraktivisten eine elitäre Sprache verwenden, die in anderen
Lebensbereichen verpönt wäre. Während der Krise wegen der Maul- und
Klauenseuche konnten sie beispielsweise über preiswerte Lebensmittel so
reden, als sei so etwas eine Schande. "Billige Lebensmittel? Um Gottes
Willen! Wir wollen doch keine billigen Lebensmittel!" Wenn Sie 200.000 Mark
im Jahr verdienen, interessieren Sie sich natürlich nicht für billige
Lebensmittel. Verbraucheraktivisten haben viel Macht, beispielsweise wenn
wohlhabende Leute die Erweiterung des Frankfurter Flughafens oder den Bau
einer neuen Autobahn verhindern wollen, damit der Preis ihrer teuren Villen
nicht sinkt. Versuchen Sie aber mal als Verbraucheraktivist, etwas gegen
den Verkehr in einem Sozialbauviertel in London oder Berlin zu unternehmen,
und Sie werden sehen, wie viel Aufmerksamkeit Ihnen die Presse schenken
wird.

Problematisch ist aber nicht nur diese Ungleichheit. Verbraucheraktivismus
ist darüber hinaus alles andere als individuell. Wenn man Konformismus
sehen will, braucht man nur so eine "Anti-Globalisierungs"-Demonstration
wie in Seattle oder Genua zu besuchen. Die Sprache, die diese Demonstranten
sprechen, die Musik, die sie hören, die stereotype Abneigung, die sie gegen
McDonald's-Hamburger oder andere Markenprodukte zur Schau tragen - all das
ist sehr konformistisch. Was man hier sieht, ist kein Individualismus,
sondern eine dumpfe Konformität, die sich selbst aber irgendwie hochgradig
individuell vorkommt.
Es ist nicht Individualität, wenn sich beispielsweise ein 12-Jähriger von
seinen Freunden abgrenzen will. Starke Individuen lassen nicht andere für
sich sprechen. Sie sind selbstbewusst und nehmen ihr eigenes Leben in die
Hand. Und starker Individualismus verbindet sich immer mit - nicht gegen -
Solidarität mit anderen. Wir glauben viel stärker an uns selbst, wenn wir
Bindungen mit anderen Menschen haben. Um ein echtes Selbstgefühl zu entwickeln,
brauchen wir den Zusammenhang mit anderen. Es muss daher darum gehen,
Teilhabe und Engagement neu zu bestimmen. Nicht in der alten Form, sondern
in einer neuen Art, die Menschen bewegen kann. Darauf lässt sich hoffentlich
eine kreativere und ansprechendere Gesellschaft bauen.

Dies ist die gekürzte und redigierte Fassung eines Vortrags, den Frank
Füredi im März 2001 auf der vom Institute of Ideas (www.InstituteofIdeas.com)
veranstalteten Konferenz "The Changing Face of the People" in der National
Gallery in London hielt. Der Text ist auch im Novo-Partnermagazin Sp!ked
erschienen (www.spiked-online.com).


Prof. Frank Füredi lehrt Soziologie an der Universität Kent in Canterbury.
Im März 2002 erscheint sein erstes Buch in deutscher Übersetzung:
Die Elternparanoia. Warum Kinder mutige Eltern brauchen
(Eichborn Verlag, Frankfurt am Main). Der vorliegende Text ist im
Novo - Magazin (Nr.55/56) erschienen.
 



 

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