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AHO Aktuell - 01.12.2001

BSE & Co: Sturm im Wasserglas - oder Waterloo der Lebensmittelwirtschaft


Pressemitteilung des Backmittelnstituts für den Bereich BMI Aktuell -
02/01 vom 14.09.2001; Autor: Udo Pollmer*, Gemmingen

BSE & Co: Sturm im Wasserglas - oder Waterloo der Lebensmittelwirtschaft

Der Deutsche kauft wieder Fleisch. Und das, nachdem gerade der 88ste BSE-Fall
festgestellt wurde. Meinungsumfragen bestätigen, daß nur noch ein Prozent der
Bevölkerung BSE für das größte Problem der Gegenwart hält. Bingo! Es herrscht
wieder Ruhe am Markt. Einer anderen Meinungsumfrage zufolge stehen die Zeichen
erst recht auf Sturm: Die Mehrzahl der Deutschen sieht BSE nur deshalb nicht
mehr als größte Gefahr an, weil sie inzwischen überzeugt ist, die Unehrlichkeit
der Lebensmittelwirtschaft sei das eigentliche Problem. Mit einer Beruhigung
der Lage ist auch langfristig nicht zu rechnen. Sobald der erste Fall mit der
neuen Creutzfeld-Jakob-Variante in Deutschland auftritt, werden die Ängste aufs
Neue entfacht. Der sich "normalisierende" Fleischkonsum hängt nicht nur mit
dem "kurzen Gedächtnis" des Kunden zusammen, sondern hat vor allem biologische
Ursachen. Tierische Lebensmittel lassen sich nicht einfach durch "Körner & Co"
ersetzen. Ein Austausch ist aufgrund vergleichbarer physiologischer Wirkungen
nur innerhalb der tierischen Produkte möglich. Und auch hier stößt man schnell
an Grenzen.

Aus diesem Grund spiegeln die erfreulichen Absatzzahlen nicht zurückgewonnenes
Vertrauen wider, sondern nur die Reaktionen des Appetitzentrums. Alle Betei-
ligten täten deshalb gut daran, der Frage nachzugehen, warum ausgerechnet
BSE so verheerende Reaktionen hervorrief, obwohl Skandale für die Fleisch-
produktion wahrlich nichts neues sind. Warum werden Todesfälle durch
Salmonellen oder EHEC ebenso achselzuckend hingenommen wie Tausende von
Verkehrstoten - nicht aber eine Handvoll verrückter Kühe?

Entscheidend war die einstimmige Garantie von Experten, Politikern und
Branchenvertretern, Deutschland sei BSE-frei. Als mit der Einführung des
BSE-Tests der erste Fall auftrat, war dem Verbraucher schlagartig klar, daß
er für dumm verkauft worden war. Nur zu gerne hatte man den Versprechungen
vertraut, BSE sei ein rein britisches Problem, und die Krankheit sei nicht
auf den Menschen übertragbar. Beide Aussagen waren fachlich durch nichts zu
rechtfertigen.
Seitens der Fleischwirtschaft wurde bis dahin über Jahre jede auch noch so
preiswerte Maßnahme zur prophylaktischen Minderung des Risikos wie die
Entsorgung aller Rinderschädel als Eingeständnis eines Risikos gewertet und
strikt abgelehnt. Viele Bürger empfanden dies im Nachhinein als vorsätzliche
Gefährdung. Entsprechend heftig fielen ihre Reaktionen aus. Der finanzielle
Aderlaß der betroffenen Branchen läßt sich kaum beziffern. Noch größer ist
der politische Flurschaden durch den entstandenen Vertrauensverlust. Der
Effekt ist durchaus vergleichbar mit Tschernobyl: Bis dahin waren Atommeiler
"sicher". Mit dem Reaktorunfall war der eindeutige Nachweis der Unwahrheit
erbracht. So wie Tschernobyl die Energiepolitik verändert hat, so wird BSE
die Agrarpolitik beeinflussen.

Eine weitere wichtige Ursache für die Krise liegt tiefer. Seit Jahren warnen
Frauenzeitschriften, Gesundheitssendungen, Ernährungsgesellschaften und Ärzte
vor "Cholesterin" und "versteckten Fetten". Sie attackieren Fleisch als Ursache
von Schwabbelbäuchen, Darmkrebs und Herzinfarkt, obwohl die Beweislage nach
jahrzehntelanger intensiver Forschung mehr als dürftig ist. Für den solcher-
maßen aufgeklärten Verbraucher zählt Fleisch zu den typischen "Eßsünden".
Der Bissen "Lebenskraft" gibt Anlaß zu Gewissensbissen. Der Rinderwahnsinn
wurde daher als "logische" Folge einer "pervertierten" Fütterungstechnik
empfunden. Wer Pflanzenfresser zu Kannibalen macht, dürfe sich nicht wundern,
wenn das liebe Vieh verrückt spielt, lautete die einhellige Meinung der
deutschen Öffentlichkeit. BSE wurde als "gerechte Strafe" für das unmoralische
Verhalten der Menschen empfunden. Die Briten waren ein willkommener Sündenbock
(BSE = Blame Someone Else).

"Agrarfabriken" haben durch ihre "Profitgier" Unglück über Tier und Mensch
gebracht. Um die gereizte Stimmung nicht weiter eskalieren zu lassen griff die
Politik die Kritik an der "industriellen Landwirtschaft" als Schuldigen auf.
Es folgte die lautstarke Forderung zur Umkehr - zur Agrarwende -, hin zu einer
Ökologischen Landwirtschaft, die noch Respekt vor dem Leben und der Schöpfung
hat. Daß von BSE vor allem vorbildlich arbeitende kleinbäuerliche Betriebe
betroffen waren, störte wenig. Warum kapriziert sich alles auf den Ökolo-
gischen Landbau? Schließlich gibt es auch andere und womöglich viel bessere
Methoden, umweltschonend, tierfreundlich und vor allem auch ökonomisch
Lebensmittel zu erzeugen.

Dazu müssen wir klären, woher die romantische Vorstellung der Öffentlichkeit
von der Landwirtschaft als Streichelzoo stammt, bei dem selbst der Bauer als
eine bedrohte Art angesehen wird. Warum gilt für alle Berufe die Forderung
nach einer Zukunftsorientierung, nach Nutzung der modernsten verfügbaren
Technik - nur die Lebensmittelwirtschaft soll sich's im Postkutschenzeitalter
gemütlich machen?

Dieses Bild wurde von allen Beteiligten - von der Agrarwirtschaft über die
Lebensmittelindustrie bis zum Einzelhandel - liebevoll gehegt und gepflegt.
Nehmen sie eine beliebige Werbekampagne, betrachten Sie die bunten Bildchen
auf den Etiketten, die Markennamen, die Werbespots im Fernsehen: Sie alle
zeigen eine heile Welt in vorindustrieller Zeit. Da springen rosa Schweinchen
auf der grünen Weide und quieken vor Weideglück, lila Kühe latschen über
blühende Alpenwiesen und zertrampeln geschützte Pflanzen. Und mittendrin
taucht der braune Bär von Bärenmarke mit seiner Milchkanne auf und entlockt
den prallen Eutern vollmundige Alpensahne, statt ein paar wohlgenährte
Touristen zu reißen.

Wer solch höheren Blödsinn mit enormen finanziellen Einsatz verbreitet, soll
sich bitte nicht beschweren, wenn es ihm gelingt, die Markenbilder so fest
zu fügen, so mit Leben zu erfüllen, daß die Gesellschaft eines Tages diese
Assoziationen in der Realität einfordert. Und da bietet sich das Heile-Welt-
Image der Ökobauern als politischer Ausweg an. Nie zuvor sind die verheerenden
Wirkungen durchgeknallter Werbestrategien deutlicher geworden als während der
BSE-Krise.

Die Werbespots liefern vielen kritischen Beiträgen über unsere Lebensmittel
die Drehbücher. Diese leben vom Entsetzen, das die Wirklichkeit auslöst -
nicht weil sie schrecklich ist, sondern weil man sie sich anders vorgestellt
hat! Es mag sein, daß die Lebensmittel vor der Industrialisierung ein
hygienischer und toxikologischer Alptraum waren. Wer aber diesen Tatbestand
im Werbefernsehen idealisiert, muß mit Empörung rechnen, wenn der Zuschauer
erfährt, daß aus Omas Stubentiger Ferkelfutter und aus Menschenhaaren
Backzutaten gewonnen werden. Da nützt auch der Hinweis nichts mehr, das Zeug
sei "natürlich" nicht mal "körperfremd". Das wirkt auch aus dem Mund
hochdekorierter Experten nicht überzeugender. Solche Praktiken lösen
Verunsicherung, Wut und Angst aus, wenn man sie nicht rechtzeitig dem Kunden
kommuniziert. Dann nützen rationale Argumente wenig. Es ergibt keinen Sinn
einem Kind, das sich vor Gespenstern unter dem Bett ängstigt, zu versichern,
so etwas gäbe es gar nicht. Angst ist keine rationale Kraft. Gegen Angst
hilft nur Vertrauen. Fehlt es, wird der Verbraucher im Ernstfall kein Wort
glauben, ja nicht einmal mehr zuhören. Vielerorts hat man aber offenbar noch
gar nicht gemerkt, daß man Glaubwürdigkeit oder Sympathie nicht per
Anzeigenkampagne verordnen kann, sondern sich über einen langen Zeitraum
erarbeiten muß.

Es ist daher an der Zeit, neue Wege der Kommunikation zu gehen. Eine
Voraussetzung dabei ist, den Kunden nicht mehr als "nützlichen Idioten"
zu betrachten, den es zu belehren gilt. Außerdem gehören Gruppen, denen
der Verbraucher Vertrauen entgegenbringt, mit an den Tisch. So unangenehm
es zunächst einem Lebensmittelhersteller erscheinen mag, sich mit Umwelt-
und Tierschützern zu verständigen, so hilfreich kann dies sein. Nicht nur,
weil der Verbraucher ihnen jene Glaubwürdigkeit entgegenbringt, die den
Unternehmen fehlt, ein solcher Prozeß verändert gleichermaßen die Wahrnehmung
aller Beteiligten. Wer durch konstruktive Gespräche zumindest in Teilbereichen
einen Konsens findet, der ist in der Öffentlichkeit wieder ein Gesprächspartner,
dem man auch ohne teure Werbespots Gehör schenkt.

Gegenüber den ökologischen Allmachtsansprüchen heutiger Verbraucherpolitik
hätte die Landwirtschaft ein viel besseres Standing, hätte sie beispielsweise
im Falle der Tierhaltung schon vor Jahren alle Beteiligten, wie Landwirte,
Viehhändler, Schlachtbetriebe und Fleischverarbeiter zusammen mit
(vernünftigen) Vertretern der Tierschutzorganisationen an einen Tisch gerufen
und sich auf praktikable Haltungs- und Schlachtsysteme verständigt. Nur wer
seine Kritiker mit ins Boot holt, hat auch eine Chance, daß seine Aussagen
ernstgenommen werden.

Wer diesen gesellschaftlichen Konsens nicht herstellt, muß damit rechnen, vom
Gesetzgeber schon allein dadurch abgestraft zu werden, daß dieser "Regelungs-
bedarf" erkennt und zum "Schutzes des Verbrauchers" oder "der Umwelt" die
Branche mit zusätzlichen Paragraphenwerken belastet. Deshalb ist es notwendig,
die Probleme zu lösen und nicht hinhaltend zu taktieren oder darauf zu hoffen,
daß es auch in Zukunft niemand merkt.

Ein weiterer wirksamer Schritt kann darin bestehen, mit kritischen Vertretern
der Medien und evtl. anderen Personen der Öffentlichkeit einen ebenso offenen
wie vertraulichen Gedankenaustausch zu pflegen. Zumindest eine Branche
praktiziert dies seit einigen Jahren erfolgreich. Sie geriet dadurch endlich
aus der Schußlinie. Das Verfahren führte dazu, daß ihre Argumente angehört
und verstanden, wenn auch nicht immer geteilt wurden. Voraussetzung für den
Erfolg war allerdings die Mithilfe professioneller Konfliktberater, die für
einen geeigneten Rahmen, eine passende Auswahl der Teilnehmer und die nötige
Kontinuität sorgten.

Wer wie die Lebensmittelwirtschaft auf den technischen Fortschritt angewiesen
ist, tut gut daran, sich Werbekampagnen zweimal zu überlegen, die Urgroßmutters
Küche als Produktionsort vorführen. Wenn die Technik so überzeugend ist, dann
überzeugen Sie damit bitte auch die Kunden. Kommunizieren Sie den Fortschritt
- wenn es Ihnen gelungen ist, zuvor einen gesellschaftlichen Konsens zu finden.
Mit ihren unüberlegten Aussagen hat die Lebensmittelwirtschaft bisher nur den
Weg in die Steinzeit geöffnet. Nun darf sie nach dem Willen des Verbraucher-
schutzministeriums zusammen mit den Landwirten an der Spitze des Zuges dorthin
marschieren.


--
*Udo Pollmer, Jahrgang 1954, beendete 1981 sein Studium der Lebensmittelchemie
an der Universität München mit dem Staatsexamen. Seit dem ist Pollmer als
selbständiger Publizist und Unternehmensberater tätig. Er war mehrere Jahre
Lehrbeauftragter für Haushalts- und Ernährungswissenschaften an der Fachhoch-
schule Fulda sowie der Universität Oldenburg. Pollmer ist seit 1995 Wissen-
schaftlicher Leiter des Europäischen Instituts für Lebensmittel- und
Ernährungswissenschaften e.V. Udo Pollmer sorgt seit Jahren mit seinen
Medienauftritten, wissenschaftlichen Artikeln in diversen Fachzeitschriften
und gleich mehreren Bestsellern für Aufsehen.
 



 

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