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AHO Aktuell - 14.04.2001

Mehr Lebensmittelsicherheit - Maßnahmen in der Nutztierhaltung


(DLG) - Der Verlust des Vertrauens der Verbraucher in die Sicherheit der
Lebensmittel tierischer Herkunft und die Tatsache, dass viele Entwicklungen
in der Landwirtschaft von großen Teilen der Bevölkerung in Frage gestellt
werden, sind kein spezifisch deutsches Problem, sondern ein Phänomen, das
in nahezu allen entwickelten Industrieländern in Erscheinung tritt. Dabei
geht es weniger um schuldhaftes Handeln oder Unterlassen von einzelnen
Personen oder Berufsgruppen, sondern viel mehr um eine gewachsene Diskre-
panz zwischen der hochgradig konsolidierten, aber dennoch differenzierten
Lebensmittelproduktion einerseits und der hochgradig zersplitterten, aber
undifferenzierten landwirtschaftlichen Rohwarenproduktion andererseits.

Der zu korrigierende Ist-Zustand:

1. Das Lebensmittelsicherheitssystem

Die Majorität der heutigen Lebensmittelrisiken (Salmonellen, Escherichia
coli O157:H7, BSE, Dioxine usw.) hat ihren Ursprung in der der Verar-
beitung vorgelagerten Primärproduktion (Futtermittel, Tierhaltung, Tier-
körperbeseitigung usw.). Die ca. 100 Jahre alte Hauptmaßnahme zur Lebens-
mittelsicherheit bei Fleisch, die amtliche Fleischuntersuchung ("Fleisch-
beschau"), und das erst vor kurzem eingeführte HACCP-Konzept (Hazard
Analysis and Critical Point) beginnen aber beide erst ab der Verarbei-
tungsstufe. Darüber hinaus kann die amtliche Fleischuntersuchung in ihrer
traditionellen Form die angeführten Risiken selbst bei akribischster
Durchführung nicht erkennen.

Die bisher vollständige Übernahme der Verantwortung für die Lebensmittel-
sicherheit durch den Staat (die amtliche Fleischuntersuchung) hat den
Gedanken der Produkthaftung in der Landwirtschaft nicht gefördert und
ein Gefühl der Entlastung von der Verantwortung für Produktmängel bei
landwirtschaftlichen Primärprodukten entwickelt.

Lösungsansatz:

Die Verantwortung zur Vermeidung von Risiken für die menschliche Gesundheit
durch den Verzehr von Lebensmitteln ist unteilbar und muss von allen an der
Produktion der Lebensmittel Beteiligten gleichermaßen getragen werden, also
auch von denen, die Nutztiere für die Produktion von Lebensmitteln auf-
ziehen und halten. Diese Forderung kann nur erfüllt werden, wenn auch in
der landwirtschaftlichen Primärproduktion das HACCP-Konzept und die Regeln
des dokumentierten und zertifizierten Qualitätsmanagements angewendet
werden, wie es schon seit längerem in den Bereichen der Schlachtung, der
Fleischverarbeitung und des Handels üblich ist. Das Ziel dieser Maßnahme
ist es, den Lebensmittelproduktionsprozess mit absolut gesunden Tieren zu
beginnen, die das geringstmögliche Risiko der Einschleppung von lebens-
mittelhygienisch relevanten Erregern und Rückständen in die Produktions-
kette garantieren. Es gilt dann, diesen höchstmöglichen Lebensmittel-
sicherheitsstandard über alle Produktionsstufen aufrecht zu erhalten.
Dafür müssen im Tierbestand und in den ihn beliefernden Unternehmen HACCP
und Qualitätsmanagement-Maßnahmen angewendet werden, die mit denen in den
nachfolgenden Produktionsstufen abgestimmt sind.

Die Übernahme der Verantwortung für die auf Bestandsebene zu erbringenden
Lebensmittelsicherheitsmaßnahmen durch den Nutztierhalter erfordert den
Aufbau von nachvollziehbaren Eigenkontrollen. Diese Eigenkontrollen
bestehen aus internen Audits und Zertifizierung durch Dritte. Der Staat
beschränkt sich auf die Kontrolle der Eigenkontrolle. Es müssen darüber
hinaus im Rahmen von festen Zulieferer-Abnehmer-Beziehungen Qualitäts-
sicherung und Produkthaftung auch für zugelieferte Rohwaren implementiert
werden.

2. Die Produktströme von der Primärproduktion zum Verbraucher

Obwohl sich der Lebensmittelmarkt bereits seit längerem in qualitäts-
orientierte Marktsegmente für differenzierte Waren (oft Markenprodukte)
aufgeteilt hat, produziert die Majorität der Landwirte ein immer noch
austauschbares Rohprodukt mit der Orientierung auf Quantität bei geringst-
möglichen Kosten. Die Landwirtschaft ist vorwiegend horizontal organisiert
(Genossenschaften, Zuchtorganisationen, Erzeugergemeinschaften usw.),
wodurch der vertikale Dialog mit den nachfolgenden Produktionsstufen sich
meist auf die Ablieferung der schlachtreifen Tiere am Schlachthof be-
schränkt. Die Rückverfolgbarkeit von Lebensmitteln zum Ursprungsbestand
ist in der Regel nicht möglich.

Lösungsansatz:

Erzeugergemeinschaften müssen ausnahmslos Qualitätsgemeinschaften werden,
durch die Gruppen von Nutztierhaltern sich mit standardisierten Pro-
duktionsverfahren (Qualitätshandbücher und Tagesaktivitätslisten) mit
Eigenkontrolle und Zertifizierung in vertikal koordinierte Produktions-
ketten einbringen, für die sie unaustauschbare Partner werden. Der
permanente Dialog zwischen allen Partnern solcher vertikal koordinierten
Ketten ermöglicht ein sofortiges Reagieren mit korrektiven Maßnahmen
im Nutztierbestand, sobald eine Abweichung vom verbraucherwunschdiktierten,
marktorientierten Produktionsstandard, der über dem gesetzlich vorge-
gebenen Mindeststandard liegt, festgestellt wird. Eine solche Produktions-
struktur ermöglicht ohne weiteren Aufwand die Produktidentität eines jeden
Lebensmittels vom Nutztierbestand bis zur Ladentheke aufrecht zu erhalten,
wodurch die zu fordernde lückenlose Rückverfolgbarkeit geschaffen wird.

3. Tierhandel und Tiertransporte

Der horizontale Wettbewerb in der Nutztierhaltung, die in Europa besonders
stark ausgeprägte Spezialisierung in hier Zucht und da Mast und die ständig
wechselnden Preise für Nutz- und Schlachttiere in den einzelnen Regionen
haben zu einem ausufernden Umfang des Lebendviehtransportes innerhalb
Deutschlands und über die innergemeinschaftlichen Grenzen hinweg geführt.
Die nicht zu übersehenden Schwierigkeiten bei der Eindämmung der MKS sind
ein beredter Beweis für diesen Zustand.

Lösungsansatz:

Der Transport von lebenden Tieren innerhalb Deutschlands und über
Ländergrenzen hinweg muss auf ein unbedingt nötiges Maß reduziert werden.
Der Transport von Produkten (Zwischenprodukte wie Schlachtkörper und
Endprodukte wie spezialisierte Lebensmittel) ist, wo immer er Lebend-
tiertransporte ersetzen kann, diesem vorzuziehen. Auch dafür ist die
Herausbildung vertikal koordinierter Produktionsketten mit Qualitäts-
gemeinschaften und festen Zulieferer-Abnehmer-Beziehungen mit Nachdruck
zu fordern und fördern. Es muss daran gearbeitet werden, dass der
Landwirt die Zugehörigkeit zu einer solchen Kette nicht als Verlust
seiner Wettbewerbsfähigkeit versteht, sondern als Verlagerung des
bisherigen Wettbewerbs um Schlachtkapazität auf einen Wettbewerb um
anerkannte und nachprüfbare Qualität.

4. Die tierärztliche Betreuung der Nutztierbestände

Aus verschiedensten Gründen hat sich besonders in der kleinstrukturierten
Landwirtschaft das Landwirt-Tierarzt-Verhältnis nicht aus dem veralteten
"Reparaturprinzip" (aufgetretene Erkrankungen werden behandelt) in das
"Wartungsprinzip" (präventive Bestandsbetreuung zur Vermeidung von
Krankheiten ohne prophylaktische Antibiotika-Anwendung) entwickelt. Beim
"Reparaturprinzip", bei dem die Bezahlung des Tierarztes oft maßgeblich
an die eingesetzten Medikamente gebunden ist, ist ein Medikamenteneinsatz,
der oft über das heute akzeptable Maß hinausgeht, in der Regel kaum zu
vermeiden.

Lösungsansatz:

Landwirtschaft und Tierärzteschaft müssen sich gemeinsam um die schnellst-
mögliche Erarbeitung und Umsetzung von Beratungs- und präventiven
Betreuungsbeziehungen bemühen, bei denen nicht die Menge der eingesetzten
Medikamente den Verdienst des Tierarztes bestimmt, sondern die Qualität
der Beratung. Diese Beratung wird sich in zunehmendem Maße auch auf die
Tiergerechtheit und die Einhaltung der in der jeweiligen Qualitätsgemein-
schaft geltenden Lebensmittelsicherheits- und Qualitätsstandards erweitern.
Der bestandsbetreuende Tierarzt kann dann auch der Kette als interner
Auditor dienen.

5. Haltungsformen, Tierschutz und Tiergerechtheit

Die in den letzten Jahrzehnten sich herausgebildeten Haltungsformen unserer
landwirtschaftlichen Nutztiere für eine intensive und damit effiziente
Nutztierproduktion ist in steigendem Maße in die gesellschaftliche Kritik
geraten. Die daraus entstandenen Zweifel, ob die Bedürfnisse des Lebewesens
Tier ausreichende Berücksichtigung finden, sind nur allzu verständlich. Die
wachsende Entfernung des modernen Menschen von der Landwirtschaft und das
Versäumnis der Landwirtschaft offen zu legen, was im Nutztierbestand vor
sich geht, haben zu einem Konglomerat von völlig berechtigten Forderungen,
ungeprüften Anschuldigungen und falschen Annahmen geführt. Dieser Tat-
bestand ist dem Finden einer von der Gesellschaft akzeptierten "Versöhnung"
zwischen der Notwendigkeit einer effizienten Lebensmittelproduktion und
der dringend erforderlichen Durchsetzung berechtigter Tierschutzforderungen
ebenso hinderlich, wie die Tatsache, dass Tierschutz und Tiergerechtheit in
hohem Maße emotional diskutiert werden.

Lösungsansatz:

Es gilt in der Landwirtschaft das Verständnis dafür zu entwickeln, dass
wissenschaftlich begründeter Tierschutz und höchstmögliche Tiergerechtheit
feste Bestandteile von gesellschaftlich akzeptierter Nutztierhaltung sind
und vom Verbraucher als Qualitätskriterien gefordert werden. Tiergerecht-
heit und Tierschutz müssen integrierte Bausteine der aufzubauenden
Qualitäts- und Lebensmittelsicherheitssysteme sein und in die Eigen-
kontrolle sowie die staatliche Kontrolle der Eigenkontrolle mit einbezogen
werden.

6. Gesellschaftliche Akzeptanz und Erwartungen

Die Tierdichte in einigen Regionen, die immer höher werdende Tierleistung
und einige Haltungsformen haben keine gesellschaftliche Akzeptanz mehr.
Die gesellschaftlich gewollte Preiswertigkeit von Lebensmitteln und die
daraus über Jahrzehnte bewusst betriebene und für lange Zeit nicht in
Frage gestellte Effizienzsteigerung in der Landwirtschaft haben zu einem
nun offensichtlichen Konflikt zwischen den heutigen Erwartungen der
Bevölkerung ("biologisch", "heimisch", "naturnah" usw.) und den nach wie
vor existierenden ökonomischen Zwängen in der Nutztierhaltung geführt.

Lösungsansatz:

Die wohl am langfristigsten anzulegenden Neuorientierungen betreffen die
Wiederherstellung der gesellschaftlichen Akzeptanz von landwirtschaftlichen
Produktionsmethoden. Aus der Sicht der Lebensmittelsicherheit ist dabei
besonders daran zu arbeiten, dass der Verbraucher verstehen lernt, dass
kleine, traditionell arbeitende Betriebe, Betriebe aus "deutschen Landen"
und Biobetriebe nicht automatisch "sicherere" Rohstoffe in die Lebens-
mittelkette liefern. Nicht Betriebsgröße, Produktionsrichtung und
Produktionsregion, sondern die Konsequenz und Transparenz der jeweiligen
Qualitätsmanagement- und Lebensmittelsicherungssysteme determinieren
die Qualität und die Sicherheit der Lebensmittel.


Prof. Dr. med. vet. habil. Thomas Blaha, Tierärztliche Hochschule
Hannover, Außenstelle für Epidemiologie, Bakum, Landkreis Vechta
(vom 1. April 1996 bis 31. März 2001 Professor am College of
Veterinary Medicine der University of Minnesota, St. Paul, USA)
 



 

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